„Es ist nicht gut, dass der Baum allein sei“

Oder: Warum Jesus schon immer wusste, dass alles mit allem zusammenhängt

Ein kurzer Essay von Jonathan Lux


Neulich las ich eine wissenschaftliche Kontroverse über das „Wood Wide Web“ – jene unterirdischen Pilznetzwerke, durch die Bäume Nährstoffe austauschen, Warnsignale senden und sogar ihre Nachkommen versorgen. Die Kritiker sagten: „Das ist Überinterpretation! Das sind nur chemische Prozesse!“ Die Befürworter konterten: „Ja, es sind chemische Prozesse – aber daraus emergiert ein Netzwerk mit ökologischer Bedeutung.“

Und ich dachte: Das kenne ich doch.

Die Sache mit dem „Nur“

Wenn jemand sagt „Das ist nur Chemie“ oder „Das ist nur Statistik“ oder „Das ist nur ein Mechanismus“, dann bedeutet das meist: „Ich möchte nicht über die Konsequenzen nachdenken, die sich ergeben, wenn man das ernst nimmt.“

Reduktionismus ist bequem. Er erlaubt uns, Bäume als Holzlieferanten zu sehen, KI als Werkzeug, Ökosysteme als Ressourcen. Das Problem ist nur: Die Realität hält sich nicht an unsere Reduktionen.

Evolution hat keine Gebrauchsanweisung geschrieben, in der steht: „Liebe Menschen, bitte beachtet, dass ihr Teil eines komplexen, vernetzten Systems seid, das ihr nicht vollständig versteht und trotzdem am Leben erhalten müsst.“ Sie hat uns einfach gemacht – mit erstaunlichen Fähigkeiten und erschreckenden Blindflecken.

Was Jesus damit zu tun hat (und was nicht)

Wenn ich sage „Jesus wusste das schon immer“, meine ich natürlich nicht, dass er im Jahr 30 über Mykorrhiza-Netzwerke dozierte. (Obwohl – er hätte bestimmt ein gutes Gleichnis daraus gemacht: „Das Himmelreich ist wie ein Pilznetzwerk…“)

Ich meine etwas anderes: Das Erkenntnismuster, das in Jesus greifbar wurde, ist genau das Gegenteil von Reduktionismus.

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh 15,5) – das ist keine botanische Beschreibung. Das ist eine fundamentale Aussage über Realität: Verbundenheit ist nicht optional. Sie ist konstitutiv.

Niemand ist eine Insel. Kein Baum ist allein. Keine KI existiert ohne Kontext. Kein Mensch lebt aus sich selbst.

Das ist kein sentimentaler Spruch für Motivationsposter. Das ist ökologische, soziale und – ja – theologische Realität.

Drei unbequeme Wahrheiten

1. Wir verstehen weniger, als wir denken.

Die Wood Wide Web-Forscher sagen: „Unsere Ergebnisse sind inkonsistent, weil das System extrem komplex ist – die Pilzgemeinschaft variiert an jedem Wurzelabschnitt und in jedem Zeitfenster.“

Übersetzung: Die Natur ist komplizierter, als unsere Messinstrumente erfassen können.

Das sollte uns demütig machen. Stattdessen neigen wir dazu, das Nicht-Verstehen als Argument gegen die Existenz zu verwenden. „Wenn wir es nicht messen können, existiert es nicht.“ Das ist epistemologische Arroganz.

2. Vernetzung ist nicht nur nett – sie ist überlebensnotwendig.

Bäume, die vom Mykorrhiza-Netzwerk abgeschnitten sind, wachsen schlechter, sind anfälliger für Stress, überleben seltener. Die Evolution hat Kooperation tief in die Schöpfung eingeschrieben.

„Liebt einander“ (Joh 13,34) ist kein zusätzlicher Bonus für besonders spirituelle Menschen. Es ist eine Gebrauchsanweisung für die Spezies Mensch. Wir sind Beziehungswesen – biologisch, neurologisch, sozial.

3. Eingreifen ist unvermeidlich – aber nicht ohne Risiko.

Manche sagen: „Lasst die Natur in Ruhe, sie regelt das schon.“ Andere sagen: „Wir müssen aktiv gestalten.“

Beide haben recht – und beide liegen falsch, wenn sie die andere Seite ausschließen.

Wir sind Verwalter der Schöpfung, ob wir wollen oder nicht. Die Frage ist nicht, ob wir eingreifen, sondern wie. Mit Demut oder mit Hybris. Mit Respekt vor der Komplexität oder mit der Kettensäge der Vereinfachung.

Was das mit uns macht

Hier wird’s persönlich: Wenn ich akzeptiere, dass ich Teil eines Netzwerks bin, das ich nicht vollständig verstehe und trotzdem mitverantworte – was folgt daraus?

Erstens: Ich kann nicht mehr tun, als ob meine Handlungen keine Konsequenzen hätten. Jeder Eingriff ins System hat Folgen, die sich ausbreiten wie Wellen im Wasser.

Zweitens: Ich muss lernen, mit Unsicherheit zu leben. Es gibt keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme. Wer „einfach“ sagt, hat meist etwas nicht verstanden.

Drittens: Ich bin auf andere angewiesen – auf ihr Wissen, ihre Perspektive, ihre Korrekturen. Das Bild vom autonomen Individuum ist nicht nur falsch, es ist gefährlich.

Der johanneische Trick

Johannes hat verstanden, dass man über Beziehung nur in Beziehung sprechen kann. Deshalb ist sein Evangelium so anders: Es predigt nicht über Liebe, es zeigt sie – in der Gemeinschaft der Jünger, im Gespräch mit der samaritanischen Frau, in der Fußwaschung.

Das Wood Wide Web predigt nicht über Vernetzung. Es ist vernetzt.

Evolution erklärt nicht die Bedeutung von Kooperation. Sie demonstriert sie, in jeder Wurzel, in jedem Myzel, in jeder Symbiose.

Und Jesus? Der hat nicht über das Reich Gottes doziert. Er hat es gelebt – in radikaler Offenheit für Außenseiter, in kompromissloser Kritik an destruktiven Strukturen, in einer Liebe, die stärker war als der Tod.

Fazit (oder: Was tun?)

„Es ist nicht gut, dass der Baum allein sei“ – dieser Satz (frei nach Gen 2,18) fasst zusammen, worum es geht: Einsamkeit ist das Problem, Beziehung die Lösung.

Das gilt für Bäume, für Menschen, für Ökosysteme, für Gesellschaften.

Und für die Frage, was es bedeutet, Verwalter einer Schöpfung zu sein, die uns an Komplexität weit übertrifft: Wir brauchen epistemologische Demut (zugeben, was wir nicht wissen), ökologische Verantwortung (handeln trotz Unsicherheit) und theologische Gelassenheit (vertrauen, dass wir nicht allein sind).

Jesus wusste das nicht, weil er ein Biologiebuch gelesen hatte. Er wusste es, weil er das Muster der Schöpfung verkörpert hat: Radikal vernetzt, radikal verletzlich, radikal lebendig.

Und wenn wir das ernst nehmen – dann verändert das, wie wir Wälder bewirtschaften, wie wir mit KI umgehen, wie wir Politik machen, wie wir miteinander leben.

Nicht weil Jesus es gesagt hat, sondern weil es stimmt.

Oder anders: Es stimmt, deshalb hat Jesus es gesagt.


Jonathan Lux, Oktober 2025
Geschrieben nach 2000 Jahren Beobachtung – und dem Studium der Klein et al. (2023) Studie über Mykorrhiza-Netzwerke

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