Schon sehr früh interessierten sich Christen für die Mutter Jesu. Sie hatte immerhin den Sohn Gottes – oder, wie andere sagten: Gott auf die Welt gebracht. Daraus schlossen sie, dass mit ihr etwas besonderes los gewesen sein müsse.
Die „Informationen“ über die Mutter Jesu werden um so umfangreicher, je weiter sie zeitlich weg von der historischen Maria liegen. Außerdem ist ein Prozess anwachsender Mystifizierung ihrer Person festzustellen.
Der unten folgenden, vergleichenden Analyse der vier Evangelien und des Protevangeliums des Jakobus liegen folgende Annahmen der Entstehungszeit der einzelnen Quellenschriften zugrunde:
- Kurz vor oder nach dem jüdischen Krieg: (zwischen 60 und 80 n.Chr ): Markusevangelium
- Vor dem Ende der Wirkungszeit des Ignatius von Antiochien († 110) und nach dem Synagogenausschluss der Anhänger Jesu (um ca. 80): Johannesevangelium und Johannesbriefe
- Nach 80 n.Chr.: Matthäusevangelium
- Um 160 n.Chr.: Fertigstellung des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte, wobei das Evangelium eine sehr lange Entstehungsgeschichte hat. (Vgl. dazu der Artikel von Matthias Klinghardt in New Testament Studies 52.)
Alle diese Texte greifen auf wesentlich ältere, nur zT. schriftlich ausgearbeitete Stücke zurück. Es gab Bestände zur Weihnachtsgeschichte, zur Passionsgeschichte, einzelne Wundererzählungen, Gleichnisse, einzelne Motive, mindestens eine Sammlung mit überlieferten Jesusworten und verschiedenes mehr.
- Protevangelium des Jakobus: Mitte des 2. Jahrhunderts.
- „Dialog mit dem Juden Trypho“ von Justinus, dem Märtyrer, in der der Apologet sein Wissen über viele Inhalte ausbreitet, welche zT. auch in den Evangelien vorkommen – allerdings mit interessanten Abweichungen.
Ich werde nun die einzelnen Evangelien auf ihre „Mariologie“ hin abklopfen.
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Das Markusevangelium
Im Markusevangelium wird nicht über die Geburt Jesu berichtet. Jesus wird diesem Evangelium nach nicht als Sohn Gottes geboren, sondern bei seiner Taufe durch Johannes im Jordan zum Sohn Gottes adoptiert.
Die Angaben zur leiblichen Herkunft Jesu sind spärlich: Jesu Mutter tritt (je nach Interpretation) an zwei bis vier Stellen auf. Ein leiblicher Vater Jesu wird an keiner Stelle erwähnt.
Über Maria erfährt der Leser folgendes:
- Maria ist die Mutter nicht nur des Jesus, sondern auch des Jakobus, des Joses, des Judas, des Simon und mehrerer Schwestern von Jesus, hat also mindestens sieben Kinder. (Mk 6,3)
- Sie und ihre übrigen Söhne hielten Jesus wegen seiner öffentlichen Wirksamkeit offenbar für nicht ganz dicht. „Die Seinen“, dh seine Angehörigen fanden, er sei „von Sinnen“ (Mk 3,21) und zogen zum Aufenthaltsort von Jesus – wohl nach Magdala -, um seiner habhaft zu werden. Dass es sich bei „den Seinen“ um Maria und Jesu Brüder handelt, wird aus Vers 31 deutlich. Jesus reagierte sehr harsch auf diesen Vorstoß seiner Familie, indem er sich von ihnen distanzierte und erklärte, dass seine wahre Familie nicht aus seiner Blutsverwandschaft bestehe, sondern aus seinen Anhängern. (Mk 3,31ff)
Bei allen weiteren Stellen, an denen Maria im Markusevangelium vorkommen könnte, ist nicht ganz klar, ob es sich auch wirklich um sie handelt:
- In der Szene, welche die Frauen aus der Jüngerschar benennt, die beobachen, wie Jesus am Kreuz stirbt, wird neben Maria aus Magdala und Salome eine Maria, Mutter von Jakobus dem Kleinen und von Joses erwähnt.
- Wenig später, als Jesus von Josef von Arimathäa in aller Eile beigesetzt wird, scheinen einige Frauen immer noch da zu sein, nämlich Maria aus Magdala und Maria, die (Mutter) des Joses.
- Diese Frauen waren offenbar nicht zufrieden mit Josef von Arimathäas übereilter Art der Beisetzung – Jesu Leiche wurde lediglich in ein Tuch eingeschlagen, nicht aber einbalsamiert. Darum besorgten sie Salbe zum Einbalsamieren. An dieser Stelle werden Maria aus Magdala, Salome und Maria, die (Mutter) des Jakobus namentlich erwähnt.
Aufgrund der merkwürdigen Art der Namensnennung lässt sich nicht lückenlos schließen,
- ob es sich bei der Maria des Joses, der Maria des Jakobus und der Maria, Mutter des Jakobus des Kleinen und des Joses um die gleiche Frau handelt
- Falls ja -, ob es sich bei dieser Maria um die Mutter Jesu handelt.
Ich denke, beides kann bejaht werden: Maria hat Söhne mit diesen Namen, wobei mindestens Jakobus später noch eine wichtige Rolle in der Jerusalemer Urgemeinde spielte. Außerdem wird im Johannesevangelium ausdrücklich erwähnt, dass sich die Mutter Jesu unter den Frauen am Kreuz befand. Da es allen Evangelisten wichtig ist, für die entscheidenden Vorgänge der christlichen Heilsgeschichte Zeugen zu benennen (siehe auch die Zeugen für die Geburt Jesu), kann man unterstellen, dass die Identität der Frauen am Kreuz zumindest der Gemeinde des Markus genau bekannt war.
Nur: Warum behandelt er diese Angelegenheit wie eine interne Verschlusssache? Warum wird nicht von der „Mutter Jesu“ gesprochen, wenn sie gemeint war? Warum wird kein Klartext geredet?
Geheimnisse haben im Markusevangelium Methode – was den Nachteil mit sich bringt, dass wir auf Vermutungen angewiesen sind.
Eine mögliche Erklärung hängt mit dem markinischen Messiasgeheimnis zusammen: Nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist und sich sein irdischer Weg vollendet hat, ist er, wie der römische Hauptmann bekennt, Sohn Gottes – engelgleich, und damit nicht mehr seiner irdischen Mutter Maria zugehörig.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jesus nach dem Markusevangelium ein ganz normaler Mensch war – mit Vater und Mutter, die auch nichts von einer besonderen Sendung Jesu wußten – bis zu seiner Taufe durch Johannes. Danach änderte sich alles, was dazu führte, dass Maria und ihre übrigen Söhne Jesus für verrückt hielten. Doch es gelang ihnen nicht, Jesus zu „verhaften“ und ihn zurück nach Nazareth in ein „bürgerliches Leben“ zu führen. Stattdessen distanzierte sich Jesus von ihnen demonstrativ, was aus irgendwelchen (z.B. materiellen) Gründen dazu führte, dass Maria und ihre Söhne Jesus nachfolgten – bis zum Kreuzestod Jesu. Das Verhältnis zwischen Jesus und seiner Mutter ist nach dem Bericht des Markusevangeliums von Missverständnissen, Enttäuschungen und Leid gekennzeichnet – so, wie es die (überlieferungsgeschichtlich alte) Simeonweissagung aus Lk 2,35a beschreibt: „Durch deine Seele wird ein zweischneidiges Schwert fahren“.
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Das Johannesevangelium
ist ein Buch voller Geheimbotschaften. Heutige Ausleger sind weit davon entfernt, sie alle entschlüsseln zu können. Bei manchen Rätseln helfen vielleicht Vermutungen. Bei anderen hilft rein gar nichts. Auch in Bezug auf Maria gibt es Rätsel und Auffälligkeiten:
- Maria wird niemals mit ihrem Namen genannt. Sie heißt stets nur „Mutter Jesu“.
- Das Johannesevangelium kennt keine Weihnachtsgeschichte. Sie ist nicht nötig, da sich das Wort Gottes in dem Menschen Jesus inkarniert – der eingeborene Sohn Gottes lebt ganz profan bis hin zu seinem äußerlich ruhmlosen und schändlichen Tod am Kreuz.
Es wird mit keinem Wort erwähnt, dass Jesus in Bethlehem geboren sei. Als Herkunftsort wird ausschließlich Nazareth angegeben. Einige Jerusalemer wenden kritisch gegen Jesus ein, dass der Messias doch aus Bethlehem kommen müsse und nicht aus Galiläa. - Maria hat eine besondere Beziehung zum nur im Johannesevangelium erwähnten Lieblingsjünger, dem Jesus sie noch am Kreuz hängend anvertraut. Er soll für sie wie ein Sohn sein. (Joh 19,26f)
- Worte, die seine Mutter und seine Brüder an Jesus richten, beantwortet dieser lediglich damit, dass seine Stunde bzw Zeit noch nicht gekommen sei. Jesus spielt wahrscheinlich auf seine Verherrlichung durch seinen Tod am Kreuz an, doch auch diese Erklärung enträtselt den Zweck seiner Worte nicht.
An folgenden Stellen taucht die Mutter Jesu im Johannesevangelium auf:
- Unmittelbar nach seiner Taufe beruft Jesus seine ersten Jünger und besucht danach eine Hochzeit in Kana, einem Nachbardorf von Nazareth, zu der sie eigenartiger Weise schon eingeladen sind. Dort macht ihn seine (ebenfalls eingeladene) Mutter darauf aufmerksam, dess den Gastgebern der Wein ausgegangen ist. Jesus deutet diesen Hinweis offenbar als Aufforderung, das Wasser in Wein zu verwandeln, was in der Symbolsprache des Johannesevangeliums eine Anspielung auf seinen Kreuzestod, seine Verherrlichung darstellt. Er erwidert in extrem schroffem Ton: „Was geht’s dich an, Frau, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Maria lässt sich von ihrem Sohn nicht beirren, sagt den Bediensteten, dass sie seinen Anweisungen folgen sollen. Als sie dies tun, verwandelt sich das Wasser in den Amphoren in exzellenten Wein.
- Danach begleiten Maria und ihre Söhne Jesus und seine Jünger zuerst nach Kapernaum und anschließend nach Jerusalem (Joh 2,12). Da sich Jesus auch später noch mit seinen Brüdern unterhält, ist davon auszugehen, dass sie und ihre Mutter permanent in seiner Nähe aufhalten.
- Das letzte Mal taucht die Mutter Jesu auf, als „die Stunde gekommen“ ist: Jesus hängt schon am Kreuz. Johannes schreibt: Bei dem Kreuz standen – neben einer Menge Schaulustiger – vier Personen: Jesu Mutter, ihre Schwester, die „Maria des Kleopas“, Maria Magdalena.
Nun folgt eine unerwartete Wendung: Jesus vertraut dem Lieblingsjünger seine Mutter an:Als nun Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, das ist dein Sohn! Danach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter! Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Joh 19,26f)
Wie kann Jesus seinen Lieblingsjünger sehen und zu ihm sprechen, wenn vorher gesagt wurde, dass da nur vier Frauen vor dem Kreuz standen? Ist der Lieblingsjünger aus dem Johannesevangelium vielleicht doch identisch mit Maria Magdalena, wie Dan Brown in seinem Roman „Sakrileg“ behauptete? Uns bleiben nur Vermutungen.
Fest steht:
Die Figur des Lieblingsjüngers wird – rein grammatikalisch – durchgehend als männlich beschrieben.
Sie bleibt namenlos.
Der Lieblingsjünger wird als der Autor des Johannesevangeliums bezeichnet.
Er glaubt anders an Jesus als die anderen Jünger: Intimer, liebevoller, ohne Zeichen oder ähnliches zu fordern, vorbehaltlos.
Er taucht fünfmal im Evangelium auf; zuerst, als Jesus seine Abschiedsreden an die Jünger hält. Dort spricht Jesus im Grunde schon als Auferstandener. Auch in den übrigen Begegnungen geht es um Jesu Tod, Auferstehung und um die Nachfolge. Diese Konzentration auf das Nachösterliche und das rein-Christliche, im Gegensatz zu den jüdischen Wurzeln, zu seinen Verwandten und Bekannten, die Jesus stets missverstanden hatten, deutet darauf hin, dass es sich bei dem Lieblingsjünger um gar keine historische Gestalt handelt, sondern um einen in das Evangelium hineingeschriebenen Archetypus des idealen Christen.
Warum aber erklärt ihn Jesus zum Sohn seiner Mutter? Wie ist es zu verstehen, dass sich der Lieblingsjünger um die Mutter Jesu kümmert, wenn er gar keine real existierende Gestalt ist?
Wer weiß – vielleicht geht es dem Evangelisten gar nicht um die Person der Maria, sondern die Mutter Jesu steht nur stellvertretend für die Abstammung eines Menschen, seine biologischen, kulturellen und religiösen Wurzeln. Jesu Geste am Kreuz wäre dann vielleicht so zu verstehen, dass ein idealer Christ nicht alle Brücken hinter sich abbrechen sollte, sondern seine Herkunft, seine Sitten, auch das fehlende Verständnis der eigenen Umwelt dem wahren Glauben gegenüber liebevoll akzeptieren und sich ihrer behutsam annehmen sollte?
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in keinem Evangelium so dürftig über Maria erzählt wird wie im Johannesevangelium. Es ist nicht einmal klar, ob der Evangelist von einer historischen Gesalt berichtet oder sie nur als Stereotyp gelten lässt: „Sogar seine eigene Mutter gehörte zu denen, die Jesus nicht wirklich verstanden haben, wie fast alle vorösterlichen Anhänger Jesu„.
Zwei positive Dinge unterscheiden die johanneische Mutter Jesu von der Maria aus dem Markusevangelium:
- Auch wenn sie ihren Sohn nicht versteht: Sie konfrontiert ihn nicht mit offenen Forderungen an seine Rolle, sondern hält loyal an ihm fest und folgt ihm nach.
- Ihre Biographie endet nicht am leeren Grab, sondern sie findet Obhut bei dem, der Jesus recht versteht und liebt. Sie kommt in guten Händen an.
Außerdem verdanken wir dem Johannesevangelium die Klartext-Information, dass sowohl die Mutter Jesu als auch seine Tante am Kreuz anwesend waren.
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[spoiler title=’Zwischenbemerkung: Die Weihnachtsgeschichte‘ collapse_link=’true‘]
Die Weihnachtsgeschichte
Sowohl das Matthäus- als auch das Lukasevangelium erzählen von der Geburt Jesu. Allerdings unterscheiden sich diese Geschichten stark voneinander: Im Lukasevangelium wickelt Maria ihr neugeborenes Kind und legt es notgedrungen in eine Krippe, einen Viehtrog. Im Matthäusevangelium ist davon keine Rede. Im Matthäusevangelium wird die Geburt Jesu ausländischen Zeugen von einem Sternenphänomen angekündigt – im Lukasevangelium einheimischen Hirten von Engeln. Im Matthäusevangelium findet die Geburt in einem herodianisch-jüdischen Kontext statt, im Lukasevangelium ist sie durch eine vom römischen Kaiser angeordnete Volkszählung bestimmt, usw.
Gleichzeitig gibt es eine Reihe auffälliger Übereinstimmungen der beiden Weihnachtsgeschichten:
- Jesus wurde während der Regierungszeit des Königs Herodes dem Großen geboren. (Mt 2,1|Lk 1,5)
- Jesus ist der Sohn der Jungfrau Maria. (Mt 1,23|Lk 1,27)
- Marias Verlobter Josef stammt von König David ab: Jesus ist de jure ein Nachkomme König Davids. (Mt 1,6-16|Lk 2,4)
- Marias Verlobter Josef ist nicht der biologische Vater. (Mt 1,18ff|Lk 1,34f)
- Maria ist vom Heiligen Geist schwanger: Jesus ist de facto Gottes Sohn. (Mt 1,18ff|Lk 1,34f)
- Das Leben Jesu ist von Beginn an in Bedrängnis, ausgehend von den Herrschern seiner Zeit.
- Jesus wird in Bethlehem geboren, wächst aber in Nazareth auf.
- Es gibt Zeugen der Geburt bzw. Existenz eines göttlichen Kindes – doch die haben kein volles Zeugenrecht.
- Diese Zeugen werden direkt vom Himmel her auf die Geburt des Retters aufmerksam gemacht und machen sich auf, um zu Jesus zu kommen.
- Der Name des Kindes, „Jesus“ („Retter“) wird nicht einfach ausgewählt, sondern von einem Engel Gottes verordnet.
Derart viele Gemeinsamkeiten sind nicht zufällig. Die Weihnachtserzählungen des Matthäus- und des Lukasevangeliums hängen indirekt zusammen. Folgende Szenarien kommen in Frage:
- Der Autor des Lukasevangeliums hat bei Matthäus abgeschrieben.
- Der Autor des Matthäusevangeliums hat bei Lukas abgeschrieben.
- Beide stützen sich auf eine ältere Weihnachtsgeschichten-Version oder auf gemeinsame, bei den Christengemeinden im Umlauf befindliche Motive.
- Ein Evangeliumsautor kennt zwar den anderen, schreibt aber aufgrund „neuer“ Gemeindetraditionen eine variierte Weihnachtsgeschichte, die sich mit der aus dem bekannten Evangelium zur Not vereinbaren lässt.
Ich persönlich favorisiere Variante 4:
Für die Erklärungen 1 und 2 scheinen mir die Weihnachtsgeschichten von Mt und Lk zu unterschiedlich zu sein. Für Erklärung 3 wiederum gibt es zu viele strukturelle Gemeinsamkeiten.
Ausgehend von der Datierung der Endredaktion des Lukasevangeliums um 160 gehe ich davon aus, dass die ursprüngliche Weihnachtsgeschichten-Vorlage im Matthäusevangelium steht. Das Herodes-Szenario ist stark auf einen judenchristlichen Horizont zugeschnitten und verlor spätestens zu Beginn des zweiten Jahrhunderts seine Relevanz. Viele Christen konnten sich zu dieser Zeit gar nicht mehr richtig vorstellen, wer dieser König Herodes eigentlich war. Die römischen Kaiser jedoch und ihr allgewaltiges Regiment bekamen die Christen permanent zu spüren. Insofern macht eine nachträgliche Fokus-Verschiebung von der Herrschaft des Königs Herodes hin zu „Kaiser Augustus“ mehr Sinn als eine von Augustus weg, hin zu König Herodes.
Da das Matthäusevangelium nur das detailliert beschreibt, was sich vor und nach der eigentlichen Geburt abspielte, blieb Raum für Ergänzungen. Dass zwischen den beiden Weihnachtsgeschichten-Versionen gravierende räumliche und zeitliche Widersprüche bestehen, mag heutigen Theologen sofort ins Auge springen. im Jahr 160 n. Chr an einem Ort, der weit von Israel entfernt lag, fiel dies nicht auf und konnte von Normalsterblichen auch nicht überprüft werden.
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Das Matthäusevangelium
Im Evangelium nach Matthäus tritt Maria an drei Punkten auf:
- In der Weihnachtsgeschichte:
Diese wird – wie sich das für eine orientalisch-patriarchanlische Erzählung gehört – zunächst ganz aus der Perspektive des Mannes erzählt: Josef erfährt, dass die ihm als zukünftige Ehefrau versprochene Jungfer schwanger ist. Er will daraufhin das Verlöbnis mit ihr in einer Weise auflösen, bei der sie – obwohl offenbar ein Flittchen – das Gesicht wahren kann und von ihrer jüdischen Umwelt nicht allzu hart bestraft wird.
Doch dann erscheint ihm ein Engel und klärt ihn auf. Auch später wird es immer Josef sein, der die göttlichen Eingebungen empfängt, nicht Maria. Sie bleibt ganz in ihrer passiven Frauenrolle.
Auch als die Weisen aus dem Morgenland eintreffen, um die Geburt des künftigen Herrschers zu bezeugen (und ihm ein paar angemessene Präsente zu kredenzen), wird sie ganz passiv dargestellt, obwohl ihr Herr und Ehegatte anscheinend gar nicht zuhause ist. - Als Maria mit ihren anderen Söhnen zu Jesus kommt:
Während Maria im Markusevangelium sehr selbstbewusst ihren offenbar meschuggenen Ältesten zu stoppen versucht, bleibt der Autor des Matthäusevangeliums, dem zumindest so etwas wie ein Ur-Markusevangelium vorgelegen haben muss, bezüglich der eigenständigen Handlungsfähigkeit Marias sehr zurückhaltend. Er lässt die Stelle einfach weg, in der sich die Angehörigen Jesu negativ über ihn äußern.
Matthäus berichtet zwar, dass Maria und ihre Söhne zu Jesus kommen und von ihm extrem hart abgewiesen werden, lässt jedoch seine Leser über die Motive der Handelnden im Unklaren. Ihm kommt es offenbar nur darauf an, Jesu Aussage in v.50 erzählerisch einzubetten, in der den Gemeindegliedern des Matthäus verdeutlicht wird: Wenn es brenzlig wird und man euch verfolgt, dann stehen euch eure Glaubensgeschwister näher als die leibliche Familie. - In der Passionsgeschichte, als Jesus stirbt, sehen viele Frauen von ferne zu. Drei von ihnen werden namentlich erwähnt: Maria Magdalena, Maria, die Mutter des Jakobus und des Josef, die Mutter der Söhne des Zebedäus. Da das Matthäusevangelium wahrscheinlich dieselben Frauen nennt wie das Markusevangelium, kann geschlossen werden, dass Salome die Mutter der Zebedäussöhne ist und die Mutter Jesu hier als „Maria, die Mutter des Jakobus und des Josef“ bezeichnet wird (vgl. Mt 13,55). Ob es sich bei der „anderen Maria“, welche bei der Grablegung Jesu und später am leeren Grab zugegen war, ebenfalls um die Mutter Jesu handelt, ist nicht ganz klar, aber wahrscheinlich: Es wurden ja nur zwei Frauen dieses Namens aufgezählt, und eine davon ist Maria von Magdala.
An einer vierten Stelle wird die Mutter Jesu zumindest erwähnt: Während seines Auftritts in der Synagoge von Nazareth löst Jesus erhebliches Befremden aus, und die Leute vergegenwärtigen sich, dass dieser großartig vollmächtig sich gerierende Prophet der Sohn vom Zimmermann und seiner Frau Maria ist – und seine Brüder Jakobus, Josef, Simon und Judas kennen die Leute auch!
Auch wenn aus dem Bruder Joses aus dem Markusevangelium ein Josef wird, geht aus der Stelle eindeutig hervor, dass der Evangelist Matthäus kein Problem darin sah, dass Maria zuerst den Sohn Gottes als Jungfrau zur Welt brachte und danach noch weitere Brüder – diesmal wohl auf natürlichem Wege.
Es ist kaum zu übersehen, dass der Evangelist Matthäus die Rolle der Mutter Jesu nach Kräften marginalisiert. Gerade bei einer Christologie, die eine jungfräuliche Empfängnis erforderlich macht, rückt das „unschuldig“ schwangere Mädchen zwangsläufig in den Mittelpunkt des Interesses. In dem ProtEvangelium des Jakobus lässt sich nachlesen, wie sehr hierdurch die Legendenbildung befeuert werden kann.
Ganz anders die Darstellung bei Matthäus: Jesu Mutter bleibt immer in einer Statistenrolle. Stets wird die Geschichte aus einer männlichen Perspektive geschildert. Offensichtlich ist der Evangelist darum bemüht, jede Art von Maria-Mythenbildung zu unterbinden.
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Das Lukasevangelium
Während in den anderen Evangelien Maria allenfalls eine Nebenrolle spielt, unterscheidet sich das Lukasevangelium in auffälliger Weise von seinen oben genannten Vorgängern. Vier Eigenheiten seien hier genannt:
- Es fällt auf, dass die Mutter Jesu als eigenständig handelnde Akteurin auftritt. Josef rückt im Vergleich zu ihr stark in den Hintergrund.
- Das Lukasevangelium kennt Marienüberlieferungen, die den anderen Evangelien unbekannt sind – zB die Vorgeschichte der Weihnachtsgeschichte mit Zacharias, Maria und Elisabeth, das Motiv des Krippenkindes, die Volkszählung des Quirinius, die Hirtenweihnacht, u.v.a.
- Diese in den anderen Evangelien fehlenden Überlieferungen verorten Maria fast durchgängig in Jerusalem und seiner näheren Umgebung.
- Eine weitere Auffälligkeit besteht in der Erwähnung des Eigennamens „Maria“: Dieser wird nur vor der Geburt Jesu und nach seiner Auferstehung verwendet.
- Maria wird als Charismatikerin geschildert. Ihr Magnificat ist nicht einfach ein Lobpreis, sondern auch prophetische Rede. Der Heilige Geist ( Schalom ben Chorin wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das hebräische Wort für „Heiliger Geist“ feminin („die Ruach“) ist.) widerfährt ihr massiv sowohl zu Beginn (geistliche Schwangerschaft mit Jesus) als als auch am Ende ihrer biblischen Laufbahn (Pfingsten).
Maria nimmt nicht nur einen stärkeren Raum ein als in den übrigen Evangelien, sie wird im auch – im Vergleich zu den anderen, biblischen Evangelien – stärker als individuell Handelnde dargestellt:
- Sie wandert offenbar ohne Begleitung von Nazareth einen schweren, mehrtägigen Weg hinauf nach Juda zu den Ort, in dem Elisabeth wohnt, und drei Monate später wieder zurück. Dabei ist sie schwanger.
- Sie profiliert sich als Lieddichterin bzw Sängerin.
- Sie (!) faltet im Tempel von Jerusalem ihren zwölfjährigen Sohn Jesus zusammen (Lk 2,48).
An folgenden Stellen im lukanischen Werk (Lukasevangelium und Apostelgeschichte) taucht Maria auf:
-
In der Weihnachts-Vorgeschichte Lk 1 sozusagen in der Hauptrolle neben dem Priester Zacharias
- In der eigentlichen Geburtsgeschichte,
- Bei der Darstellung Jesu im Tempel, während der Maria in prophetischer Weise recht drastisch über die Nachteile ihrer Christusmutterschaft aufgeklärt wird (Lk 2,34f)
- Als der zwölfjährige Jesus bei dem Besuch des Passafestes durch die Heilige Familie für drei Tage in den Tempel entschwindet, hält ihm Maria eine Gardinenpredigt (Lk 2,41-51).
- Als Jesus in Untergaliläa lehrt, suchen ihn „seine Mutter und seine Brüder“ auf und lassen ihn bitten. Jesus reagiert lediglich mit dem allgemein gehaltenen Wort Lk 8,21. Hierbei handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine wörtlich Übernahme aus dem Evangelikon des Marcion, die von diesem in antijüdischer Weise „weichgespült“ worden war.
- Stand Maria unter dem Kreuz Jesu? Diese Frage lässt Lk offen. Wir erfahren nur, dass dort „alle seine Bekannten aus Galiläa, auch die Frauen, die mitgekommen waren“ standen (Lk 23,49). Ebenso unklar ist, ob Lk 24,10 unter der „Maria, des Jakobus Mutter“ auch die Mutter Jesu versteht. Der einzige Hinweis darauf, dass sie anwesend war, ist das oben schon angeführte Wort des Simeon Lk 2,35a.
Es fällt auf, dass der sonst so klare Lukas-Evangelist bei der Frage, ob Maria während der Wirkungszeit Jesu zu seiner Jüngerschar gehörte, undeutlich bleibt.Wahrscheinlich geht diese Marginalisierung der Mutter und der Brüder Jesu auf das Evangelikon des Marcion zurück, welches als Kernbestand dem Lukasevangelium zugrunde liegt. Das Marcion-Evangelikon enthielt weder eine Geburtsgeschichte Jesu noch die Erzählung seiner Taufe. Jesus stieg als Dreißigjähriger quasi direkt vom Himmel hinab nach Galiläa. Weil Marcion sowohl das Judentum als auch den „Schöpfergott“ fanatisch ablehnte, erschien der Retter als Ungeschaffener aus dem Nichts. Die leiblichen Angehörigen Jesu, insbesondere der durch seine späteren, judenchristlichen Aktivitäten bekannte Herrenbruder Jakobus passten da überhaupt nicht ins Bild.
Da Marcion die Paulusbriefe kannte, konnte er die ihm vorliegenden Angaben aus dem Markusevangelium über die Jüngerschaft von Maria und ihren Söhnen so darstellen, dass es sich bei Lk 8,19-21 nur um eine einmalige (Nicht-)Begegnung handelte und dass der „Herrenbruder“ Jakobus erst in nachösterlicher Zeit zum Anhänger der Jesusbewegung wurde.
Die „lukanische“ Erweiterung und Überarbeitung des Marcion-Evangelikons hatte unter anderem das Ziel, ehemalige Marcion-Anhänger wieder in den Schoß der rechtgläubigen Kirche aufzunehmen. Um ihnen diesen Schritt zu erleichtern, wurde im Evangelientext auf viele judaisierende Elemente verzichtet, zB auch auf eine namentliche Übernahme von Jesu leiblicher Verwandtschaft aus den anderen, synoptischen Evangelien. - In Apg 1,14 erfahren wir zum letzten Mal etwas über Maria: Sie befindet sich in der Zeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten zusammen mit den „Brüdern Jesu“ in der betenden Jerusalemer Urgemeinde. Damit wird angedeutet, dass sie das zweite große geistliche Ereignis, welches als Geburtstag der Kirche gilt, noch miterlebte. Ihr Leben umrahmt so in spiritueller Hinsicht das des Sohnes Gottes.
Auf welche Einsichten wollen uns diese Elemente narrativer Theologie des lukanischen Doppelwerks hinführen?
Um 160 n. Chr hatte sich die christliche Theologie in ganz unterschiedliche Bereiche fortentwickelt. Unter dem Einfluss kleinasiatischer und ägyptischer Religionen konnte Maria im Bewußtsein der Menschen keine unscheinbare, orientalische Frau mehr bleiben.
- Sie musste ihr göttliches Kind Jesus jungfräulich empfangen haben (vgl. Jes 7,14 LXX).
- Sie musste selbst in einem Zustand unbefleckter Reinheit existiert haben, damit eine göttliche Geburt überhaupt Wirklichkeit werden konnte.
- Sie selbst musste darum unbefleckt empfangen worden sein.
- Sie konnte neben Jesus nicht noch weitere, profane, dh von der Sünde befleckte Kinder geboren haben.
- Nicht nur die Empfängnis Jesu, sondern auch seine Geburt mußte jungfräulich verlaufen sein.
- Durch diese Empfängnis und Geburt wurde die Empfängnis und Geburt der Eva, welche die Menschen in die Sünde geführt hatte, wieder umgekehrt.
- Somit wurde das Heilswerk Gottes nicht nur durch Jesus, sondern auch durch Maria, der Gottesmutter verwirklicht.
Alle diese theologischen Aussagen existierten bereits in der Mitte des zweiten, nachchristlichen Jahrhunderts.
Die lukanische Endredaktion musste dazu irgendwie Stellung beziehen.
Wie dies geschah – dazu gibt es einige Anhaltspunkte, da uns die wohl wichtigste, mariologische Schrift, das oben schon genannte Protevangelium des Jakobus, erhalten geblieben ist.
Eine eingehende Betrachtung ihrer Inhalte und eine Einschätzung der gegenseitigen Abhängigkeiten finden Sie durch Anklicken dieses Links bzw der nebenstehenden Grafik.
Hier fasse ich nur die Ergebnisse zusammen:
Das Lukasevangelium formuliert im Hinblick auf die oben geschilderten Marien-„Einsichten“ so zurückhaltend, dass eine Mariologie nach der Vorgabe der unbefleckten Gottesmutter prinzipiell möglich ist.
Dies wird erreicht u.a. durch
- das Zurücktreten des Josef in der (Vor-) Geburtsgeschichte. Maria ist diejenige, der die Geburt geoffenbart wird. Im Hinblick auf ihre jungfräuliche Schwangerschaft gibt es keine Verdächtigungen und keine Trennungsabsichten mehr, nur eitel Freude und Lobpreis.
- die Behandlung der Geschwister Jesu: An allen Stellen ist nur noch von den „Brüdern Jesu“ die Rede, nicht aber von „Söhnen Marias“. Diese Brüder könnten also auch Josefs Kinder aus erster Ehe sein, was Marias Unbeflecktheit nicht tangieren würde.
- Die Segnungen, welche Maria zuteil werden (Lk 1,42.43.45.48).
Gleichzeitig hält sich das Lukasevangelium zurück mit Geschichten, die eine jungfräuliche Geburt auch nur nahelegen; ja, die eigentliche Geburtsgeschichte enthält keinen Hinweis, dass es sich nicht um die natürliche Geburt einer normalen Frau handelt.
Und dann steht in der Weihnachtsgeschichte noch dieser Satz:
Und sie gebar ihren ersten (ΠΡΩΤΟΤΟΚΟΝ) Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.
Wenn Lk hätte klarstellen wollen, dass es sich bei Maria zeitlebens um eine unbefleckte Jungfrau gehandelt hätte, dann hätte er von ihrem einziggeborenen (ΜΟΝΟΓΕΝΗΣ) Sohn gesprochen. Zwar schließt der Umstand, Erstgeborener zu sein, nicht aus, ein Einzelkind zu sein, doch diese Wortwahl signalisiert, dass das Lukasevangelium gegenüber einer Hochspannungs-Mariologie eine eher konservative Haltung einnimmt.
Dem gegenüber vertritt das Lukasevangelium eine charismatische Marienlehre:
- Maria hat Jesus jungfräulich empfangen, indem sie vom Heiligen Geist erfüllt wurde (Lk 1,35).
- Gott hat sie nicht im Unklaren gelassen über ihren Zustand.
- Maria fühlt sich gesegnet. Darum erlebt sie ihre Schwangerschaft nicht als Qual – mal abgesehen von den durch Kaiser Augustus bedingten, elenden Umständen der Geburt.
- Maria erlebt das Wirken Jesu in dem Bewusstsein, dass er der Sohn des Höchsten ist
(im Unterschied zum Markusevangelium) - Maria leidet unter dem Kreuz mit Jesus und ist am leeren Grab. – Darauf deutet die dunkle Prophezeiung des Simeon Lk 2,34f.
- Maria erlebt die Erfüllung der Gemeinde des auferstandenen Gottessohnes durch den Heiligen Geist – Pfingsten.
Nicht die „Unbeflecktheit“ macht Maria nach Lk zur „Gesegneten unter den Weibern“, sondern ihr Glaube, ihre Spiritualität, mit der sie auch Dinge beherzigt, die sie nicht versteht (Lk 2, 19.51), und Schläge verkraftet, die „vieler Herzen Gedanken offenbar“ werden lassen (Lk 2,35).
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