Zwei Dinge vorweg:
- Diese Betrachtungen sind ein Nebenprodukt einer Sachanalyse, welche im Rahmen einer Unterrichtsvorbereitung stattfindet. Sie können aufgrund dieser Rahmenbedingungen nicht die für eine wissenschaftliche Exegese erforderliche Tiefe erreichen; zB fehlen eine gründliche Textkritik, eine sozio-historische Analyse und weiteres.
- Diese Betrachtungen favorisieren eine Entstehungstheorie des Lukasevangeliums, welche davon ausgeht, dass Lk auf dem „Evangelikon“ des Marcion basiert, welches um ca. 160 n. Chr zum lukanischen Doppelwerk (Lk und Apg) ausgebaut wurde, mit dem Ziel, eine vollständige und lehrmäßig einwandfreie Überlieferung sicherzustellen. Vgl. zB der Artikel von Matthias Klinghardt in New Testament Studies 52.
Wenn man von einem frühen Entstehungsdatum der Lk-Endfassung (zB 80 n. Chr) ausgeht, stellt sich die Frage nicht, in welcher Beziehung das Protevangelium des Jakobus zum Lukasevangelium steht. Denn das Protevangelium wird auf die Mitte des 2. Jahrhunderts nach Chr. datiert. Bei einer Spätdatierung (Lk als modifiziertes Marcion-Evangelikon) jedoch könnte sich das Abhängigkeitsverhältnis umkehren (Lk schrieb beim Protevangelium ab) oder zu der Erkenntnis führen, dass Lk und Protev unabhängig voneinander auf dieselben literarischen Quellen zurückgriffen.
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Überblick über das Protevangelium des Jakobus
Das Protevangelium („Vor-Evangelium“, ursprünglich lautete der Titel „Die Geburt der Maria“) erzählt die Geschichte der Maria von der Zeit vor ihrer Geburt bis zur Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten.
Hier ein Überblick über die Handlung nach Kapitelnummern:
1 Marias (späterer) Vater Joachim, ein nicht mehr junger Mann, wird wegen seiner Kinderlosigkeit am Tempel zurückgewiesen und geht darum in die Wüste, um zu fasten.
2-3 Joachims Frau Anna, nicht mehr im geburtsfähigen Alter, beklagt ihre Kinderlosigkeit. Ihre Magd Euthine/Judith setzt ihr zu.
4 Anna und Joachim bekommen von Engeln verkündigt, das sie ein Kind bekommen werden. Anna gelobt, dass sie, falls das Kind eine Tochter wird, es Gott „als Opfergabe“ darbringen wird, dh. an den Tempel abgeben wird.
Jungfräuliche Empfängis der Anna während der Abwesenheit des Joachim (? – der griechische Text ist nicht eindeutig)
5 Geburt der Maria.
6 Im Alter von sechs Monaten wird Maria von ihren Eltern unter Quarantäne gestellt, so dass sie mit nichts Unreinem mehr in Kontakt kommt.
7 Maria wird im Alter von drei Jahren den Priestern des Tempels übergeben. Große Verheißungen werfen ihren Lichtstrahl voraus.
8 Marias Eltern bringen ein Dankopfer dafür dar, dass Maria nicht wieder zu ihnen nach Hause wollte.
Als Maria zwölf Jahre alt ist, verkündet ein Engel dem Hohepriester (!) Zacharias, dass sie mit einem Witwer aus dem Volk verheiratet werden soll. Zarachias versammelt die Witwer.
9 Durch eine wundersame Wahl wird der alte Josef als Ehemann bestimmt. Der will nicht, verweist auf seine Söhne und den riesigen Altersunterschied, wird aber durch Drohungen veranlasst, Maria „in seine Obhut“ zu nehmen. Danach geht er auf Geschäftsreise.
10 Maria gehört zu dem Kreis der unbefleckten Israelitenmädchen, die den Tempelvorhang nähen sollen. Sie näht die purpurnen und scharlachroten Teile. – Zu dieser Zeit wird Zacharias stumm.
11 Beim Spinnen des Purpurs bekommt Maria von einem (ungenannten) Engel die Geburt eines Kindes angekündigt.
Das, was der Engel sagt, stimmt zT wörtlich mit dem Text des Lukasevangeliums überein.
12 Der Priester, bei dem sie den genähten Scharlach abgibt, segnet sie und spricht: „Du wirst gesegnet sein unter allen Geschlechtern auf der Erde“. Maria bleibt drei Monate bei Elisabeth, die ihr sagt: „Woher geschieht mir dies, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“.
Danach kehrt Maria nach Hause zurück und verbirgt sich vor den Leuten. Sie ist 16 Jahre alt.
13 Josef kehrt zurück und sieht, dass Maria schwanger ist. Er macht ihr Vorwürfe und fragt, von wem das Kind ist. Maria weiß es nicht.
14 Josef will Maria diskret aus dem Verlöbnis entlassen, bekommt aber von einem Engel im Traum gesagt, dass das Kind vom Heiligen Geist ist, und dass er es Jesus nennen soll. Maria bleibt in seiner Obhut.
15 Josef wird von den Priestern verklagt, weil er seine jungfräuliche Verlobte geschwängert hat.
16 Maria und Josef bestehen die Probe des Prüfungswassers und werden darum nicht verurteilt. Maria kann bei Josef bleiben.
17 Der Kaiser Augustus befiehlt, dass sich alle Einwohner Bethlehems schätzen lassen sollen. Josef setzt Maria auf einen Esel und zieht nach Bethlehem, begleitet von zwei Söhnen. Drei Meilen vor dem Ort bekommt Maria Wehen.
18 Josef findet eine Höhle, bringt Maria dort unter und geht eine Hebamme suchen. Er erklärt ihr, dass seine Verlobte Maria ein Kind vom Heiligen Geist erwartet.
19 Josef findet auch eine Hebamme, die zufällig des Weges kommt.
Die bekommt aber nicht viel zu tun, denn es geht zu wie bei der Verklärung. Eine lichte Wolke macht sich in der Höhle breit, versetzt die Hebamme in Verzückung, und als sich der Nebel verzieht, ist das Jesuskind schon da.
Die Hebamme ist total baff von dieser jungfräulichen Geburt. Vor der Höhle begegnet ihr eine Bekannte namens Salome. Die will die Sache nicht glauben, bevor sie die Angelegenheit nicht eigenhändig mit dem Finger untersucht hat.
20 Salome geht in die Höhle und nimmt die Untersuchung von Marias Jungfernhäutchen vor. Danach verflucht sie ihren Unglauben, denn ihre Hand brennt furchtbar und droht vom Arm abzufallen.
Ein Engel erscheint ihr, der ihr rät, das Jesus-Baby anzufassen. Dies tut sie, und ihre Hand ist sofort wieder geheilt. Salome verlässt die Höhle, muss aber schweigen von dem, was sie erlebt hat.
21 Die Magier aus dem Osten kommen, besuchen zunächst Herodes und dann die Höhle, in der die heilige Familie haust. Sie beschenken Mutter und Kind mit Gold, Weihrauch und Myrrhe und kehren nach Hause zurück.
22 König Herodes sendet Mörder aus, um alle Kinder unter zwei Jahren in Bethlehem zu töten.
Maria erfährt davon und versteckt Jesus, eingewickelt in Windeln, in einer Ochsenkrippe. Elisabeth flieht mit ihrem Johannes auf wundersame Weise in das Innere eines Berges.
23 Herodes zitiert Zacharias zu sich und will den Aufenthaltsort des Johannes erfahren, um ihn als möglichen Thronnachfolger auszuschalten. Zacharias kennt ihn aber nicht. Kurz danach wird Zacharias ermordet.
24 Große Trauer um Zacharias. Als sein Nachfolger wird jener Simeon bestimmt, dem der Heilige Geist offenbart hatte, dass er den Tod nicht sehen würde, bis er den Christus im Fleische sähe.
25 Schlusswort des Jakobus.
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[spoiler title=’Erzählintention des Protevangeliums‘ collapse_link=’true‘]
Erzählintention des Protevangeliums
Das Protev ist ein Musterbeispiel für legendarisch-anekdotenhafte, narrative Theologie. Wie die „echten“ Evangelien verrät es seine theologischen Aussagen nicht explizit. Der Leser soll aus den Auffälligkeiten der Erzählung seine eigenen Schlüsse ziehen.
Neben vielen, wiederkehrenden biblischen Motiven fällt vor allem auf, dass das Thema der Reinheit Mariens eine Hauptrolle spielt.
- Maria ist ein Gotteskind, zur Welt gebracht von Eltern, die biologisch dazu eigentlich gar nicht mehr in der Lage sind.
- Möglicherweise wurde Maria auch jungfräulich empfangen.
- Maria wird zuerst von ihren Eltern, danach im Tempel von allen Schlechtigkeiten der Welt quasi hermetisch abgeriegelt.
- Schließlich wird sie an einen alten Witwer vermittelt, der offenbar keinen Sex mit ihr haben möchte, sondern sie nur beherbergt.
- Ihre Schwangerschaft durch den Heiligen Geist bringt sie zwar in Erklärungsnot (weil Maria die Ankündigung der Geburt durch einen Engel wieder vergessen hat), aber sie besteht alle kultischen Reinheitstests ohne Probleme.
- Auch die Geburt Jesu geht ganz ohne die sonst üblichen Zeichen kultischer Unreinheit vor sich. Man hat den Eindruck, dass Jesus aus Maria herausgebeamt wird.
- Salome stellt per Finger-Test fest, dass Marias Hymen noch erhalten ist.
Kurzum: Maria ist und bleibt ihr Leben lang eine reine Jungfrau und Gottesmutter. (Ihr Rang und ihre Reinheit übersteigt somit die der Priesterinnen der großen, heidnischen Heiligtümer der Diana/Artemis, der Vesta und der Demeter.)
Damit setzt sich das Protevangelium klar gegen das Matthäusevangelium ab, das zwar eine jungfräuliche Empfängnis kennt, bei dem aber jeder Hinweis auf eine Jungfrauengeburt fehlt, sowie darauf, dass Jesus der einzige Sohn der Maria ist.
Diese Reinheitsbesessenheit des Protevangeliums war im zweiten Jahrhundert unter den Christen von Rom offenbar en vogue. Den Grund erläutert ein damaliger christlicher Intellektueller, Justinus der Märtyrer, in seinem Dialog mit dem Juden Typhon:
Andrerseits wissen wir, daß er [Jesus] durch die Jungfrau Mensch geworden ist, damit auf dem gleichen Wege, auf welchen die von der Schlange verursachte Sünde ihren Anfang nahm, die Sünde auch aufgehoben werde. Denn Eva, welche eine unverdorbene Jungfrau war, gebar, nachdem sie das Wort der Schlange empfangen hatte, Sünde und Tod
Die Jungfrau Maria dagegen war voll Glaube und Freude, als der Engel Gabriel ihr die frohe Botschaft brachte, der Geist des Herrn werde über sie kommen und die Kraft des Höchsten werde sie überschatten, weshalb auch das Heilige, das aus ihr geboren werde, Sohn Gottes sei.
Es geht also um die Umkehrung des Sündenfalls der Eva durch die Reinheit der Maria. Offenbar genügte den damaligen Christen die narrative Theologie der Passionsgeschichte nicht mehr, um die Rettung der Welt durch die Selbsthingabe und den Tod Jesu sowie die Vergebung Gottes zu begründen. Maria wird durch ihre Unbeflecktheit zur Miterlöserin der Menschheit.
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[spoiler title=’Eigenheiten des Protevangeliums‘ collapse_link=’true‘]
Eigenheiten des Protevangeliums des Jakobus
Geographie
Von beiden Evangelien weicht das Protevangelium in der Beschreibung der geographischen Verhältnisse ab. Während sich Maria und Josef im Matthäusevangelium offenbar in Bethlehem aufhalten und erst nach der Flucht aus Ägypten nach Nazareth kommen, geht die Reise beim Lukasevangelium von Nazareth nach Bethlehem und später wieder zurück.
Im Protevangelium wird auf Ortsnamen weitgehend verzichtet. Anscheinend kennt es sich in Palästina etwa genausogut aus wie Karl May in New Mexico.
Da Maria, Josef, Elisabeth und Zacharias relativ häufigen Kontakt mit Tempelpriestern pflegen, scheint sich ihr Wohnort in oder um Jerusalem zu befinden.
- Der ProtEvangelist schätzt die Distanz zwischen Bethlehem und Jerusalem falsch ein. So schreibt das Protevangelium 17,2, dass sich Maria und Josef nach offenbar längerer Reise der Stadt Bethlehem bis auf drei Meilen genähert hätten. Doch die beiden Städte liegen nur fünf Meilen voneinander entfernt.
- Wenn Joseph in Protev 21,1 von der Höhle bei Bethlehem nach Judää aufbricht, scheint dem Autor der Schrift nicht bewusst zu sein, dass diese Höhle bereits in Judää liegt.
Langer Rede kurzer Sinn: Das Protev hat zwar wenig Ahnung von der Geographie Judäas, lehnt sich aber bei seiner Schilderung der örtlichen Verhältnisse an das Matthäusevangelium an. Die handelnden Personen finden sich dagegen im Lukasevangelium wieder.
Kult
Das Protev schreibt zwer viel und selbstbewusst von den Vorgängen im Tempel und der jerusalemer Priesterschaft, aber einige eklatante Schnitzer zeigen, dass das Protevangelium nicht wirklich kennt, was es zu schildern vorgibt:
- Maria wird neun Jahre lang im Tempel erzogen (Protev 7 und 8).
In heidnischen Kulten wurden auch Mädchen im Tempel aufgenommen, um ihre (u.a. jungfräuliche) Reinheit für die später auszuübende, priesterliche Funktion zu erhalten (zB bei den Vestalinnen). Doch im Jerusalemer Tempelkult war die Erziehung von Mädchen ein absolutes No-Go. Der war reine Männerangelegenheit. - In Protev 8,3 geht der Hohepriester mal eben so ins Allerheiligste des Tempels, um zu beten.
Auch dies war ein No-Go: Das Allerheiligste wurde nur zu einem Anlass vom Hohenpriester aufgesucht, um am Jom Kippur die darin befindliche Stufe mit Blut zubesprengen und so das Zeichen der Versöhnung Gottes mit dem Volk Israel zu setzen.
Aus alledem lässt sich schließen, dass das Protevangelium nicht in einem jüdischen, sondern in einem heidnischen Umfeld weit entfernt von Israel entstand, und dass wohl auch einige Quellen, auf die es zurückgreift, heidnischen Ursprungs sind.
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[spoiler title=’Abweichungen und Gemeinsamkeiten mit Mt und Lk‘ collapse_link=’true‘]
Abweichungen und Gemeinsamkeiten mit Mt und Lk
Die Verkündigung der Geburt von Johannes dem Täufer
… ist im Lukasevangelium (Kapitel 1,5-80) eng verwoben mit der Geburtsgeschichte Jesu. Der ganze Erzählkomplex wirkt weitgehend einheitlich, anschaulich und erfüllt von großer dicherischer Kraft – ein echter Klassiker.
Wenn man ihn als Ganzes betrachtet, fallen jedoch einige Ungereimtheiten auf:
- In v.5 wird eine zeitliche Bestimmung vorgenommen, die nicht zum Rest der Chronologie des Lukas-Evangeliums passt: „In den Zeiten des Königs Herodes“ verkündet ein Engel dem alten Priester Zacharias, dass er ein Kind bekommen werde.
Sechs Monate später (v. 26) wird Maria schwanger und muss weitere (maximal) neun Monate später mit ihrem Dauerverlobten Josef nach Bethlehem, weil der römische Statthalter von Syrien, Quirinius, im Namen des Kaisers Augustus eine Volkszählung durchführt.
Zwischen dem Tod des Königs Herodes und der Volkszählungszuständigkeit des Statthalters Quirinius liegen jedoch die zehn Regierungsjahre des Ethnarchen Herodes Archelaos. So lange war Maria sicher nicht schwanger.
Um dieses Problem chronologisch zu lösen, wurde schon viel Gelehrtenschweiß vergossen, aber so richtig plausibel kommen die gefundenen Hypothesen nicht herüber. - Maria lebt zusammen mit ihrem Verlobten Josef in Bethlehem, unternimmt aber „eilends“, obwohl sie weiß, dass sie schwanger ist, die lange und beschwerliche Reise – wohin eigentlich? „zu einer Stadt in Juda“, um die alte Elisabeth zu besuchen, bei der sie drei Monate bleibt, um dann, noch viel schwangerer und wiederum alleine, den langen und gefährlichen Weg nach Hause zurückzulaufen.
Eine allein reisende Schwangere auf einer mehrtägigen, strapaziösen und gefährlichen Tour – Ist das nicht kompletter Wahnsinn? Was hat sich Josef eigentlich gedacht, seine Maria in diesem Zustand ziehen zu lassen?
Möglicherweise liegt die Lösung dieses Lk-Problems im Protevangelium verborgen. Wir werden die Angelegenheit im Auge behalten.
Die eigentliche Geschichte der Geburt des Johannes (Lk 1,5-25) wird im Protevangelium nicht geschildert, kann aber als bekannt vorausgesetzt werden. Daraufhin deuten
- die Anmerkung, dass Elisabeth eine Verwandte von Maria ist (Lk 1,36; Protev 12,2)
- die lapidare Bemerkung, dass Zacharias in der Zeit, als Maria den Purpur webte, stumm wurde (Protevk 10,2; Lk 1,20-22).
- der auch im Protevangelium erzählte Besuch der Maria bei Elisabeth (Protev 12; Lk 39-56)
Die Verkündigung der Geburt Jesu
Bei der Verkündigungsszene (Lk 1,26-38; Protev 11) ist festzuhalten:
- In beiden Szenen begegnet Maria ein Engel.
Was er Maria zu sagen hat, stimmt in beiden Schriften z.T. wörtlich überein.
- Nach Lk befindet sich Maria in Nazareth. Nach Protev hält sie sich in Josefs Haus nicht weit entfernt vom Jerusalemer Tempel auf und webt aus Scharlach ein Stück des Tempelvorhangs.
Der Lobgesang der Maria
… (Lk 1,46-55) kommt auffälligerweise nicht im Protevangelium vor. Stattdessen segnet sie ein Priester (Protev 12,1) mit Worten aus Lk 1,48:
Maria, Gott der Herr hat deinen Namen groß gemacht, und du wirst gesegnet sein unter allen Geschlechtern der Erde.
Es ist nicht klar, ob dem Protev das Magnificat in seiner Gänze unbekannt ist, oder ob sein Autor es absichtlich weglässt. An sich besitzt das Protevangelium keine Scheu vor dem Einbau poetischer Texte. Also sollte ein so wichtiger wie das Magnificat nicht fehlen. Der Autor des Protevangeliums könnte sich jedoch an den national-jüdischen Inhalten des Liedes gestoßen und darum nur den Maria verherrlichenden Teil überliefert haben. Auch das Simeonlied fehlt, aber Simeon wird genannt, weil er nach dem Tod des Zacharias dessen Stelle als Hohepriester einnimmt (Protev 24,4).
Diese „beiläufigen Andeutungen“ bezüglich mancher als bekannt vorausgesetzter Überlieferungsstücke tauchen mehrfach auf und sollen wohl zeigen, dass der Protevangelist mehr weiß als er sagt.
Der Besuch der Maria bei Elisabeth
Während das Lukasevangelium (Lk 1,39-45) den Besuch Mariens bei Elisabeth nur indirekt damit begründet, dass der Elisabeth eine ähnlich geistlich-wundersame Schwangerschaft- widerfuhr wie ihr selbst, erscheint diese Visite bei Protev 12 besser begründet: Beide nähen am gleichen Tempelvorhang des Allerheiligsten. Die Wohnorte beider Frauen liegen so nahe beieinander, dass der Weg zur Visite auch für eine Schwangere zu schaffen ist.
Maria wird sowohl vom Priester, bei dem sie ihre Arbeit abgibt, als auch von Elisabeth (bzw Johannes) gesegnet.
Der gravierendste Unterschied zum Lukasevangelium besteht darin, dass sich die Protevangeliums-Maria nicht mehr an die Verheißung des Engels Gabriel erinnern kann, während sie in der Lukas-Vorgeschichte voller Freude und Sendungsbewusstsein das Magnificat singt. Die ungeklärte „genetische“ Vaterschaft von Marias Kind wird im Lukasevangelium überhaupt nicht problematisiert, ganz im Gegensatz zum Protevangelium: Dort (Kapitel 13ff) muss Maria eine Menge durchmachen, was ihr sicher leichter gefallen wäre, wenn sie sich noch an Gabriels Verheißung hätte erinnern können. Mehr dazu weiter unten.
Aus dem Gesagten ergeben sich unterschiedliche Hypothesen zur Quellenredaktion:
- Das Protevangelium erzählt die „originalere“ Version:
Das Vergessen der Gabrielsverheißung durch Maria stellt einen notwendigen Bruch dar, durch den von der Freude über die göttlich gewirkte Schangerschaft zu der Misere der irdisch ungeklärten Schwangerschaft übergeleitet wird. Lk glättet diesen Widerspruch, indem er den Misere-Teil komplett streicht, Maria auf diese Weise in Watte packt und die sie preisenden Segensworte mit weiteren, ihm vorliegenden Texten im Sinne einer jüdisch eingefärbten Theologie der Armen ausbaut. - Das Lukasevangelium erzählt die „originalere“ Version:
Die Maria/Zacharias/Elisabeth-Überlieferungen enthalten ursprünglich keine Problematisierung der jungfräulichen Schwangerschaft Mariens. Der Autor des Protevangeliums verknüpft sie nachträglich mit der aus Mt 1,18ff stammenden Erzählung von der möglichen Verstoßung der Maria und baut sie dramatisch aus. Die Vergesslichkeit Mariens stellt die Gelenkstelle dar, welche beide Überlieferungskomplexe verbindet: Maria kann sich nicht mit der Verheißung von Gabriel rechtfertigen; also benötigt Josef noch eine Extra-Offenbarung (Protev 14,2).
Im Übrigen zeigt der Vergleich der Texte die stilistischen Unterschiede der beiden Versionen. Während bei Lk eine sehr dicht und konzentriert gewählte, teilweise poetische Schriftsprache die Dinge auf den Punkt bringt, erzählt das Protevangelium so, wie man mündlich eine volkstümliche Geschichte erzählen würde – mit Gedankensprüngen, mehr oder weniger gut plazierten Nebenbemerkungen (zB der für den Fortgang der Erzählung belanglosen Information, zu welchem Zeitpunkt Zacharias seine Sprache verlor), Angaben, die man an einer Stelle zu erzählen vergaß und die man an einer anderen nachträgt (zB den Namen des Verkündigungsengels: Gabriel, vgl. Protev 12,2), etc.
Die lukanische Lücke
Im Gegensatz zum ansonsten recht unglaublich wirkenden Protevangelium profiliert sich das Lukasevangelium trotz aller wunderhaften Erscheinungen als integre und eloquente Erzählung.
Aber es gibt in der Lk-Vor-Weihnachtsgeschichte einen dunklen Punkt, eine Art Vakuum:
Die Haltung des Josef gegenüber seiner Verlobten.
- Wir erfahren nicht, warum er seine schwangere Verlobte den langen Weg nach Judäa alleine zurücklegen lässt.
- Wir hören nichts davon, wie er auf ihre Schwangerschaft reagiert.
Diesem in der antiken Welt schwerwiegenden Problem (der ungeklärten Schwangerschaft) widmet das Protevangelium immerhin vier Kapitel (13-17). Dabei wird die Erzählung aus Mt 1,19ff in theatralisch ausgeschmückter Form abgewandelt: Es kommt zu einer direkten Konfrontation zwischen Josef und Maria. Schließlich setzt das Protevangelium noch eins drauf, indem es davon erzählt, dass die Tempelpriester Josef anklagen, Maria vor ihrer Vermählung geschwängert zu haben.
Es ist kaum vorstellbar, dass irgendein antiker Text in dieser Angelegenheit auf Antworten verzichtet hätte. Darum muss man, glaube ich, davon ausgehen, dass der Lukas-Evangelist eine Auslassung vorgenommen hat.
Möglicherweise lässt sich das, was in Protev 13f steht, zurückführen auf einen Text, der nicht nur Maria, Elisabeth und Zacharias, sondern auch Josef als Hauptperson umfasste und beschrieb, wie er Maria mit ihrer Schwangerschaft konfrontierte.
Sollte dies der Fall sein, dann lehnte sich diese Geburtsvorgeschichte viel stärker an die Erzählwelt des Matthäusevangeliums an, als es das das erste Kapitel des Lukasevangeliums glauben macht. Dies würde auch erklären, warum es Maria so leicht fällt, Elisabeth zu besuchen:
- Die Geschichte spielt in der Nähe von Jerusalem. Maria/Josef und Elisabeth wohnen so nahe beieinander, dass eine schwangere Frau dort alleine hingehen kann.
- Die unspezifische Angabe in Lk 1,39 (Maria ging in das Gebirge zu einer Stadt in Judäa) passt gut zu dem Raster an Orts-Auslassungen des Protevangeliums.
- Ebenso ließe sich der zeitliche Widerspruch zwischen dem noch lebenden Herodes dem Großen († 4 v. Chr) und der Volkszählung des Quirinius (6 n. Chr) lösen: Die Zachariasgeschichte spielt in herodianischer Zeit. Die Angaben zur Volkszählung sind kein Bestandteil der ursprünglichen Geburts-Vorgeschichte.
Welche Teile des Protevangeliums noch auf diesen Vor-Geburts-Erzählkomplex zurückzuführen sind, kann hier nicht abschließend beurteilt werden. Es ist anzunehmen, dass sowohl im Protevangelium als auch im Lukasevangelium eine Passage fehlt, in der das Verwandtschaftsverhältnis von Maria und Elisabeth genauer erklärt wird. Vielleicht gehörten die Ezählungen von der Geburt von Maria und Johannes, der „Vorläufer Jesu“, der gleichen, literarischen Quelle an?
Die Geburt Jesu
Zunächst eine kurze Inhaltsangabe des 17.-22. Kapitels des Protevangeliums:
Der König (!) Augustus veranstaltet einen Zensus der Einwohner von Bethlehem (!). Josef, der sich nicht dort befindet, beschließt, seine Söhne und Maria in die Einwohnerliste aufnehmen zu lassen – offenbar, weil er selbst schon in dieser Liste steht. Er muss mit den Seinen also nach Bethlehem, gelangt aber nicht bis dorthin, weil Maria Wehen bekommt.
Josef findet eine Höhle, in der Maria niederkommen kann.
Zufällig findet Josef auch eine Hebamme, die allerdings nur als Zeugin für Mariens Jungfrauengeburt fungiert. Um die Sache quasi empirisch abzusichern, erscheint noch ein schlimmer Finger namens Salome, so dass am Ende kein Zweifel daran besteht, dass Maria auch nach der Geburt noch Jungfrau ist.
Nach dem Abgang der Hebamme und Salomes tauchen die Magier aus dem Osten auf, welche vorher überflüssiger Weise (!) auch bei König Herodes Halt gemacht hatten. Sie beschenken das Kind, beten es aber nicht an und kehren in der im Matthäusevangelium beschriebenen Weise zurück in den Osten.
König Herodes sieht sich von den Magier betrogen und schickt Mörder aus, um in Bethlehem alle Kinder unter zwei Jahren zu töten. Maria versteckt das Jesuskind in einer Ochsenkrippe. Elisabeth, die sich offenbar auch in Bethlehem aufhält, flieht mit Johannes in das Innere eines Berges.
Diese Geburtsgeschichte enthält eine Menge bekannte, aber irgendwie seltsam verfremdete Elemente aus Mt und Lk. Der Eindruck drängt sich auf, dass hier ein Krippenbauer seinem Affen kräftig Zucker gegeben hat.
1. Volkszählung
Der Zensus findet sich bei Lk wieder. Allerdings versucht der Evangelist, die näheren Umstände der Volkszählung (Zeitpunkt, Umfang) genau zu beschreiben. Im Protevangelium stimmt weder der Titel des Augustus, noch der Ausmaß einer solchen Zählung. Von der Chronologie der damaligen Herrscher ganz zu schwegen.
2. Geburtsort
Die Geburt findet weder bei einer Krippe statt, wie Lk schildert, noch „in Bethlehem“, wie es im Matthäusevangelium steht, sondern in einer Höhle, die sich angeblich ca. 2 km von Bethlehem entfernt befindet. Außer Josef und Maria (und Jesus) sind noch zwei ältere Söhne Josefs zugegen, von denen einer Simon heißt.
Diese Abweichung gegenüber der damals gängigen Standardgeschichte (des Matthäusevangeliums) hat sich der Autor des Protevangeliums wohl nicht aus den Fingern gesogen.
Aus dem sogenannten Nazoräerevangelium, einer inzwischen verlorengegangenen Schrift des beginnenden zweiten Jahrhunderts, zitiert ein irischer Gelehrter und Dichter des 9. Jahrhunderts namens Sedulius Scottus eine längere Passage, in der auch von einem Josefssohn namens Simon, von einer Geburtshöhle und dem Besuch der Magier aus dem Osten die Rede ist. Aufgrund der wenigen Reste des Nazoräerevangeliums, von dessen Inhalt wir nur aus Zitaten wissen, lässt sich nicht beurteilen, ob und wieviel das Protevangelium des Jakobus daraus übernommen hat.
Eine Höhle als Geburtsort Jesu kommt auch in der Schrift Justins des Märtyrers, Dialog mit dem Juden Trypho, Kap. 78,4f vor, der ebenfalls eine Volkszählung kennt und sie erheblich genauer beschreibt als das Protevangelium:
Er [Josef] ging vielmehr (mit ihr), als damals in Judäa die erste Zensusliste unter Quirinus aufgestellt worden war, von Nazareth, wo er gewohnt hatte, hinauf nach Bethlehem, woher er stammte, um sich daselbst aufzeichnen zu lassen; denn er war gebürtig aus dem Stamme Juda, welcher jene Gegend bewohnte. Zugleich mit Maria erhält er Befehl, nach Ägypten zu gehen und dort mit dem Kinde zu bleiben, bis ihnen in einer neuen Offenbarung gesagt würde, sie sollen nach Judäa zurückkehren. Damals aber, als der Knabe in Bethlehem geboren wurde, nahm Joseph, da er in jenem Dorfe nirgends Unterkunft finden konnte, in einer Höhle in der Nähe des Dorfes Quartier. Als sie damals an jenem Orte weilten, hatte Maria Christus geboren und ihn in eine Krippe gelegt. Hier haben ihn den Magier aus Arabien gefunden. Daß Isaias“, fuhr ich fort, „im Gleichnis auch von der Höhle prophezeit hatte, davon habe ich euch oben erzählt“
Justin, der genau in der Zeit (und wohl auch in der Nähe des Ortes) lebte, in der das Lukasevangelium seinen letzten Schliff erhielt, bietet hier eine Menge auf, was sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium steht, und für die Höhle, die in keinem biblischen Evangelium vorkommt, liefert er sogar noch eine alttestamentliche Verheißung. Um so auffälliger, dass bei Lk auf eine Höhle verzichtet wird, obwohl es in Judäa Höhlenställe gab, die auch Viehkrippen enthielten.
3. Die Zeugen
Zu jeder Weihnachtsgeschichte – oder besser: Zu jeder Geschichte, in der Jesus zum Sohn Gottes wird – gehören Personen, welche bezeugen, wie er dies wurde (bzw als solcher offenbar wurde). Im Markus- und Johannesevangelium ist dies der Täufer Johannes, im Matthäusevangelium sind es die Magier aus dem Osten, im Lukasevangelium die Hirten.
Im Protevangelium sind es
- die Hebamme: Sie erlebt die „Geburt“ live mit.
- Salome: Sie überprüft empirisch, dass Maria nach der Geburt noch eine Jungfrau ist. Da sie jedoch verboten bekommt, darüber zu berichten, konnte sich damals die Nachricht dieser Ausnahmegeburt nicht verbreiten (so zumindest die implizite Erklärung des Protevangeliums).
- die Magier aus dem Osten.
Hirten tauchen keine auf im Protevangelium. In der Höhle findet sich auch keine Krippe. Dazu hat das Protevangelium eine ganz andere Erklärung parat s. u..
4. Das, was bezeugt wird
Im Lukasevangelium bekommen die Hirten von einem Engel verkündet, dass ihnen in dieser Nacht geboren wurde
- der Retter
- der Messias (Christus)
- der Herr
Daneben bemerkt das Lukasevangelium noch, dass es sich bei Jesus um den erstgeborenen Sohn der Maria handelt (Lk 2,7).
In diesem Punkt liegen das Lukasevangelium und das Protevangelium des Jakobus ganz weit auseinander.
Dieses bezeugt die Geburt des Retters eigentlich gar nicht: Während bei Lk ein Engel zu den Hirten spricht, und während bei Mt die Schriftgelehrten des Herodes erklären bzw. dieser selbst verrät, wo der König der Juden geboren wird, bekommen die Magier aus dem Protevangelium bei Herodes gar nichts erklärt.
Es gibt nur einige diffuse Zeichen: Die Hebamme gerät aufgrund einer Verklärungswolke vor der Höhle in Verzückung. Die Lightshow zur Geburt, das seltsame Verhalten des Babys – es kommt (!) unmittelbar nach seiner Geburt zur Brust seiner Mutter und nimmt sie -. das Wegbrutzeln von Salomes Hand, das Erscheinen des Engels, der ihr sagt, wie sie ihre Hand retten kann, und ihre wundersame Heilung durch Berührung des Kindes: Dies alles deutet schon darauf hin, dass etwas Besonderes passiert.
Aber richtig klar erwiesen wird in der Geburtsgeschichte des Protevangeliums nur eines: dass Maria auch nach dieser Geburt eine reine Jungfrau bleibt, dass also Jesus ihr einziger Sohn ist und nicht nur ihr erster, wie es Lk 2,7 feststellt.
Nun schließt der Umstand, Erstgeborener zu sein, nicht aus, gleichzeitig ein Einzelkind zu sein. Doch für „Einzelkind“ gibt es einen Terminus technicus, den Lk durchaus kennt. Das Lukasevangelium sagt also „eher nein“ zu der Frage, ob Maria eine immerwährende Jungfrau ist.
5. Die Krippe
Im Lukasevangelium stellt das in einer Viehkrippe liegende Wickelkind den entscheidenden Beweis für die Hirten – die Zeugen der Geburt des Retters – dar (Lk 2,7.12.16). Aufgrund des Protevangeliums (22,2) und Justins Dialog mit Trypho (Zitat s.o.) wissen wir, dass sich das Motiv des Jesuskindes in der Krippe auch ohne die Hirtengeschichte im Umlauf befand.
Allerdings taucht die Krippe nicht in der Geburtsszene des Protevangeliums auf, sondern dient erst später als Versteck für Jesus vor den Häschern des Herodes.
Diese Krippen-Version ist gegen alle uns bekannten, urchristlichen Weihnachtsüberlieferungen gebürstet: Durch sie erübrigt sich nicht nur die Flucht nach Ägypten, sondern auch die Erfüllung der alttestamentlichen Weissagung aus Hos 11,1, wodurch ein unnötiger Konflikt des Protevangeliums mit dem Text des Matthäusevangeliums herbeigeführt wird.
(Hatten sich vielleicht manche praktisch denkenden Gemeindeglieder daran gestört, dass die heilige Familie wegen der Verfolgung durch Herodes Reißaus bis in das weit entfernte Ägypten nahm? Hätte Hebron nicht auch gereicht? Oder das Kind an einem Ort zu verstecken, an dem es laut ist und keiner danach sucht?)
Ich kann mir dieses holprige Ausscheren weg von der Linie des maßgeblichen Evangeliums nur damit erklären, dass wir es hier mit einem Traditionselement zu tun haben, das älter ist als die „Krippen“ von Justinus und Lk. Durch deren sekundären Einbau der Krippe in die eigentliche Geburtsgeschichte wird einerseits der Widerspruch zur Flucht nach Ägypten beseitigt, andererseits kann so das einprägsame Bild vom Gottessohn im Viehtrog in die Mitte des Geschehens rücken.
Unbestreitbar ist, dass ein großes Interesse der Gemeindeglieder an der Herkunft, Geburt und Jugend Jesu bestand. Und weil das ansonsten Standards setzende (Matthäus-)Evangelium keine eigentliche Geburtsszene besaß, schossen in der Mitte des zweiten Jahrhunderts unterschiedliche Weihnachtsgeschichten ins Kraut (s.o., Justinus). Es befanden sich Motive im Umlauf, von denen es nicht alle in den Kanon der neutestamentlichen Schriften schafften. Aber es war vorherzusehen, dass irgendjemand einmal eine verbindliche Geburtsszene verfassen würde.
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[spoiler title=’Schlussfolgerungen‘ collapse_link=’true‘]
Schlussfolgerungen
Mit großer Sicherheit lässt sich sagen, dass das Protevangelium das Matthäusevangelium kannte und versuchte, eine dazu „kompatible“ Erweiterung der Maria-Geschichte zu verfassen. Wie aber steht es in Bezug auf das Lukasevangelium?
Hier sind noch einmal die wichtigsten Argumente zusammengefasst:
1. Theorie: Der Autor der Endredaktion des Lukasevangeliums hat (um ca. 160) beim Protevangelium abgeschrieben:
Wenn dem so wäre, dann hätte Lk am lebhaft erzählten Stoff des Protevangeliums umfangreiche Streichungen vorgenommen, den Text verdichtet, zugleich gestrafft, poetisch ausgeformt, Angaben präzisiert bzw geändert und die steilen, mariologischen Spitzen (zB den „Finger-Beweis“ einer jungfräulichen Geburt) beseitigt.
Dafür spricht:
- Die Erweiterung diverser Angaben aus dem Protevangelium zu poetischen Stücken (Magnificat, Simeonlied).
- Der Ausbau der Protev-Marginalie über Jesus in der Ochsenkrippe (Kap. 22,2) zu einem zentralen Motiv seiner Weihnachtsgeschichte: Das Kind in der Krippe wird für die Hirten zum Beweis, dass der Heiland geboren ist .
Dagegen spricht:
- Lk beschreibt die Geschichte des Zacharias sehr ausführlich, obwohl sie im Protevangelium nur kurz angeschnitten wird. Die ganze Passage (Lk 1,5-25) wirkt nicht so, als ob sie hinzuerfunden wurde, sondern eher wie eine in das Evangelium übernommene, legendarische Überlieferung.
Lk müss also zumindest noch auf andere Quellen zurückgegriffen haben.
Hinzu kommt, dass das Lukasevangelium den im Protevangelium als Hohepriester fungierenden Zacharias zum „kleinen“ Priester der achten Hierarchiestufe herabstuft (Lk 1,5). Damit werden sowohl die Geschichte der Josefswahl als auch die des Todes des Zacharias hinfällig. - Lk ist insgesamt bestrebt, die ihm vorliegenden Angaben zu den Geschwistern Jesu weichzuspülen. Wenn Lk das Protevangelium gekannt hätte, dann hätte er vollständige Klarheit schaffen können durch die Übernahme der Angabe, dass es sich bei den Brüdern Jesu um Stiefgeschwister aus Josefs erster Ehe handelte.
Falls das Protevangelium dem Autor des Lukasevangeliums wirkich vorgelegen haben sollte, dann ging dieser mit dessen Inhalten in sehr kritischer und reservierter Weise damit um.
2. Theorie: Der Protevangelist hat beim Lukasevangelium abgeschrieben
Dies ist die klassische Lehrmeinung, welche vor allem auf einer angeommenen Entstehungszeit des Lukasevangeliums um 80 n.Chr. beruht.
Dafür spricht:
- Das Protevangelium hat (Kapitel 17,1) den seltsamen Widerspruch aus dem Lukasevangelium übernommen, dass Jesus sowohl zu Zeiten des Königs Herodes als auch zu Zeiten einer kaiserlichen Volkszählung geboren wurde.
Dagegen spricht:
- Viele Angaben aus dem Protevangelium ähneln zwar denen aus Lk, erwecken aber den Eindruck, dass der Protevangelist manche einprägsamen Texte des Lukasevangeliums nicht kennt: ZB macht Protev 17,1 aus dem Kaiser Augsustus einen König Augustus.
- Es ist kaum vorstellbar, dass sich jemand, der das Lukasevangelium kennt und über die schon recht „marienfreundlichen“ Tendenzen dieses Evangeliums hinaus eine weitere Überhöhung ihrer Stellung vornehmen möchte, so respektlos mit seiner wichtigsten Quelle umgeht, zentrale Passagen zu Maria (Magnificat, Simeonlied) weglässt, aus Kaisern Könige macht und das Hauptmotiv der vorliegenden Weihnachtsgeschichte ruiniert (die Rolle des Wickelkindes in der Krippe).
Eine Art Harmonisierung von Mt und Lk wäre viel eher zu erwarten gewesen, welche vor allem die präzisen Angaben aus Lk übernimmt.
Vor allem das letzte Argument überzeugt mich, denn das Protevangelium ist bestrebt, keinen allzu eklatanten Widerspruch zum Text des Matthäusevangeliums zu erzeugen. Die neue, steile Marienlehre soll durch die vorhandenen, Autorität genießenden Traditionen nicht widerlegt, sondern bestätigt werden.
Die Widersprüche zur Lk-Weihnachtsgeschichte erklären sich am besten daraus, dass der Autor des Protevangeliums das Lukasevangelium nicht kannte.
Die weit geringeren Widersprüche zum Matthäusevangelium lassen sich dagegen darauf zurückführen, dass dem Protevangelisten der Wortlaut von Mt nicht schriftlich vorlag und dass er die Erzählabsicht mancher matthäischen Texte nicht durchschaute (zB die Rolle der Weisen).
3. Theorie: Das Protevangelium des Jakobus und das Lukasevangelium sind nicht direkt voneinander abhängig, sondern greifen auf gleiche bzw ähnliche Quellen zurück
Dieses Erklärungsmodell bringt die Schwierigkeit mit sich, dass wir keine Quellen für Lk 1 sowie für weite Teile des Protevangeliums besitzen. Die lockere Erzählweise dieser Schrift erschwert auch eine Rekonstruktion seiner Vorlagen. Wir wissen nicht, was alles zur Zacharias/Elisabeth-(Josef?)/Maria-Geburtsvorgeschichte gehört hatte. Vielleicht könnte eine eigehende Sprach- und Strukturanalyse weiterhelfen.
Nichtsdestoweniger lassen sich ganz grob einige Stücke unterscheiden:
- Die Geburtsgeschichte der Maria
- Die Geburtsvorgeschichte des Täufers Johannes mit Zacharias und Elisabeth als Hauptfiguren
- Die an Mt 1 angelehnte Geburtsvorgeschichte Jesu (mit Maria und Josef), welche vielleicht mit der Geburtsvorgeschichte des Johannes verknüpft war
- Diverse Erzählmotive für die Geschichte von Jesu Geburt (Volkszählung des Augustus, Krippe, Simeon)
- Die weitgehend auf den Angaben des Matthäusevangeliums beruhende Geschichte vom Kindermord in Bethlehem (und dem Mord an Zacharias?).
Für diese Theorie sprechen die vielen, unterschiedlichen und sich nur teilweise überschneidenden Motive, Informationen und literarischen Vorlagen zwischen dem Protev und Lk. An den Texten von Justinus lässt sich erkennen, dass sich in der damaligen Zeit zwar jede Menge Überlieferungsstücke im Umlauf befanden, aber noch ganz unterschiedlich verknüpft werden konnten
Dagegen spricht die Möglichkeit, dass das Protevangelium dem Autor des Lukasevangeliums vorgelegen haben könnte. Lk hätte diese Quelle dann äußerst kritisch bearbeitet und sich in der Geschichte von Jesu Geburt (Lk 2,1-21), in der die Jungfräulichkeit der Maria mit keinem Wort erwähnt wird und Jesus als Mariens erstgeborener Sohn bezeichnet wird (v. 7), geradezu gegen das Protevangelium gewendet.
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Resümee
Ich halte es für am ehesten wahrscheinlich, dass beide Schriften nicht direkt voneinander abhängig sind. Das Lukasevangelium kommt der im 2. Jahrhundert immer stärker werdenden Marienverehrung zwar entgegen, bremst aber das Verlangen nach der Verherrlichung der unbefleckten Jungfrau.
Dies geschieht jedoch in so diskreter Weise, dass nicht der Eindruck entsteht, Lk beziehe sich auf eine bestimmte, andere Schrift. Wenn Lk das Protevangelium gekannt hätte, wäre wohl auch zu erwarten gewesen, dass in seiner Geburtsvorgeschichte erwähnt wird, wie schwierig es für Maria war, als schwangere, verlobte Jungfrau gesellschaftlich zu bestehen, und wie ihr Verlobter damit umging.
Lk und das Protev verfahren in unterschiedlicher Weise mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Material. Während das Protevangelium die vorliegenden Stoffe in freier Sprache wiedergibt und sich möglicherweise noch weitere Freiheiten gönnt, beweist der Autor des Lukasevangeliums virtuose literarische Fähigkeiten und eine genaue Quellenkenntnis, verwebt die ihm vorliegenden Stoffe zu kunstvollen und einprägsamen Erzählsträngen, strafft sie und fügt präzise Angaben zur räumlichen, zeitlichen und personellen Orientierung hinzu (auch wenn diese nicht immer den historischen Tatsachen entsprechen, vgl. z.B. Herodes und den Zensus des Quirinius).
Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Schriften besteht allerdings darin, dass das Lukasevangelium die gute Botschaft von Jesus schreibt, das Protevangelium dagegen die von Maria.
Beide Schriften erwiesen sich als ungeheuer erfolgreich: Mit dem Lukasevangelium konnte der Kanonisierungsprozess der neutestamentlichen Schriften zum Abschluss gebracht werden. Das Protevangelium des Jakobus überdauerte als oft vervielfältigter, nichtkanonischer „Partisan“ die Jahrhunderte und befruchtete die Marienfrömmigkeit derart, dass es noch heute Teil der orthodoxen Liturgien ist und in der römischen Kirche maßgeblich zur Bildung von (bislang) vier Mariendogmen beitrug.